Rössl: Tell me more!

Mit seiner Textreihe „TELL me!“ hat Markus Wild-Schauber die Geschichte Ötigheims mit Schillers „Wilhelm Tell“ beleuchtet. Nun führt er die Reihe mit mehreren Folgen zum „Weißen Rössl“ fort. Denn 2025 steht bei den Volksschauspielen eine Neuinszenierung des Operettenklassikers an.

Historische Theateraufführung vor dem Gasthaus 'Zum Weißen Rössl' mit rotem Teppich, Kutsche und Zuschauern in Trachten
Der Kaiser kommt! Großer Empfang beim Rössl 1978/79 auf dem Tellplatz.

 Wenn an diesem Wochenende das „Weiße Rössl“ Premiere feiert, geht für die Hunderten von Mitwirkenden eine intensive, aber freudig-beschwingte Probenzeit zu Ende. Auch diese Textreihe, die Markus Wild-Schauber für den Gemeindeanzeiger verfasst hat, findet mit dieser Folge ihren Abschluss. 

Bis in die letzten Proben wurde an der Inszenierung gefeilt. Und was die Volksschauspiele gemeinsam mit dem Liederkranz, dem Musikverein und dem Reiterverein Ötigheim auf die Beine gestellt haben, darf ganz Ötigheim mit Stolz erfüllen. Wer einen Blick hinter die Kulissen wirft, begegnet Menschen, die das „Rössl“ nicht nur spielen, sondern leben – mit Herz, Humor und Hingabe. „Ich empfinde es als großes Geschenk, bei so etwas dabei sein zu dürfen“, sagte eine langjährige Mitspielerin am Rande einer Probe. Und man wird ihr sicher beipflichten: Dass eine Dorfgemeinschaft eine Operettenproduktion in dieser Größenordnung und mit solch aufwendiger Ausstattung realisiert, ist wohl einzigartig. 

Die Aufführungen finden nachmittags und abends statt. Sichern Sie sich Ihre Karten – für ein unvergessliches Sommererlebnis dort, wo Theater zum Ereignis wird: bei den Volksschauspielen in Ötigheim! 

Herr im weißen Anzug hält rothaarige Frau in geblümten Kleid in den Armen.

Bühnenbau mit Türmchen, davor ein blaues Tuch gespannt. Hinter dem Tuch sind die Körper Personen in Badekleidung zu sehen - über dem Tuch die Köpfe Badekappen.

Frau im rosa kurzen Kleid tanzt mit einem glatzköpfigen Herrn in historischer Badebekleidung.

Mann in Lederhose steht auf einer Treppe einer Frau im roten Dirndl gegenüber. Rechts und links des Paares stehen Tänzer in Lederhose auf der Treppe.

Theaterensemble in historischen Kostümen posiert auf einer Bühne mit Treppen und Kronleuchter, Arme zum Gruß erhoben

Mann in weißer Gardeuniform mit einem an Hosenträgern an seinem Körper befestigten Modellboot um die Hüften grüßt winkend in eine Menschenmenge.

Mann im schwarzen Anzug und Fliege lehnt an einem weißen Stuhl vor einer Speisekarte mit Gerichten wie Paprikahuhn und Wachtel.

2025 bringen die Volksschauspiele Ötigheim „Im Weißen Rössl“ in neuer Inszenierung auf die Freilichtbühne. Markus Wild-Schauber begleitet die Produktion mit dieser Textreihe. Folge 8 erzählt, wie das Rössl einst an den Wolfgangsee kam – und warum es sich 2025 lohnt, auch im Schwarzwald Station zu machen.

Wer die Geschichte von Oscar Blumenthal und Maria Aigner kennt – jenem Theatermann aus Berlin und jener klugen Wirtin aus Lauffen –, weiß: Der Ursprung des „Weißen Rössls“ liegt nicht am Wolfgangsee, sondern an der Traun, ein paar Flusskurven weiter. Dort stand das Gasthaus, das Blumenthal 1896 zu seinem Lustspiel inspirierte. Und dort schrieb sich seine Sommersehnsucht in Szenenform.

Steinernes Gasthaus mit Schild 'Gasthof zum weißen Rössl' vor bewaldetem Hügel
Lauffen: Das originale „Weiße Rössl“ vor dem Abbruch.

Dass das Rössl der späteren Operette in St. Wolfgang steht, ist kein literarisches Erbe – sondern ein nachträglich geschaffenes Bühnenbild. Nicht von Blumenthal, sondern von einer findigen Wirtin mit PR-Instinkt: Antonia Drassl.

Ältere Frau mit grauen Haaren im Dutt trägt traditionelle Tracht mit besticktem Mieder und weißen Bluse
St. Wolfgang: Antonia Drassl – Pionierin des Rössl-Marketings.

Drassl führte damals das Gasthaus „Zum weißen Ross“ in St. Wolfgang – solide, gut gelegen, mit Seeterrasse und Dampferanleger. Als das Berliner Stück zum Erfolg wurde, erkannte sie das Potenzial. Sie erklärte sich öffentlich zur „echten Rösslwirtin“, reiste zu Tourismusmessen, sprach mit Journalisten – und stilisierte ihr Haus zur angeblichen Vorlage des Stücks. Dass Blumenthal nie auch nur einen Satz in St. Wolfgang geschrieben hatte, geriet zur Randnotiz.

Tatsächlich wurde die erste Verfilmung des Lustspiels 1926 in Sankt Wolfgang gedreht. Und als 1930 Erik Charells Revuefassung die Theaterwelt eroberte, hatte die Operette endgültig ihre geografische Verortung: am Wolfgangsee.

Kirche mit Turm und Hotel Weisses Rössl am Ufer des Wolfgangsees im Salzkammergut, umgeben von Bergen
St. Wolfgang: Das Hotel „Weisses Rössl“ um 1930.

Das Stück hatte ein Zuhause gefunden. Und St. Wolfgang eine Rolle – die es bis heute spielt.

Schon in den 1930er-Jahren notierte ein Berliner Kritiker amüsiert, dass viele Touristen offenbar erwarteten, der Chor müsse „gleich von irgendwo her auftreten“. Die Realität bot jedoch nur: Berge, Wasser, Ruhe. Die große Bühne der Wirklichkeit schien ihre Darsteller vergessen zu haben.

Noch heute betritt man als Gast das berühmte Rössl mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Erwartung. Man hält – beinahe instinktiv – Ausschau nach Leopold. Der darf doch nicht einfach weg sein. Man linst in die Küche, ob Josepha vielleicht gerade das Schnitzel fürs Abendessen klopft. Und man wundert sich, dass die Stubenmädchen nicht singen. Hat man sich verlaufen? Oder ist das hier wirklich „nur“ ein Hotel?

Und doch: Das Rössl funktioniert. Nicht, weil es spielt – sondern weil wir es fühlen.
Wer die Musik kennt, hört sie im Geschirrklappern. Wer den Film liebt, erkennt Szenen in jedem Winkel. Das Rössl ist heute ein modernes Haus, doch es trägt das alte Bühnengefühl wie ein gut gebügeltes Gilet.

Wer sich dann dabei ertappt, dass der Oberkellner jetzt eigentlich „Zuschau’n kann i net“ anstimmen müsste – dem sei ein Ausflug in den Schwarzwald empfohlen. Genauer: nach Ötigheim.

Frau in traditionellem rotem Dirndl mit schwarzem Muster und roten Schuhen hält roten Blumenstrauß, neben Mann im schwarzen Frack mit weißem Hemd und Fliege, stehend auf einem Weg im Park
Ötigheim: Leopold (Reinhard Danner) und Josepha (Lisa Hähnel), 2025.

Dort kann man das Rössl nicht nur empfinden, sondern tatsächlich erleben – mit Chor, Orchester und echtem Leopold. Auf Deutschlands größter Freilichtbühne wird 2025 die Operettenfassung von 1930 neu belebt – nicht als Souvenir, sondern als Ereignis: mit Hunderten von Mitwirkenden, romantischer Verwirrung, tanzendem Personal und der beglückenden Gewissheit, dass man hier die große Operettengeste nicht suchen muss – sie findet einen.

Denn das geografische Rössl steht am Wolfgangsee.
Das musikalische aber – in Ötigheim!

 

Ohrwürmer überm Brüchelwald – Ötigheim stimmt sich aufs „Rössl“ ein

2025 bringen die Volksschauspiele Ötigheim „Im Weißen Rössl“ in neuer Inszenierung auf die Freilichtbühne.Markus Wild-Schauber begleitet die Produktion mit dieser Textreihe. Folge sieben widmet sich der Musik – und dem musikalischem Leiter Bernard Bagger:

In Ötigheim wird gesungen und musiziert – in Vereinen und Gruppen, das ganze Jahr über. Doch in diesen Wochen schwingt ein besonderer Klang durch den Ort. Er kommt aus Kinderzimmern, steigt aus Badewannen, zieht durch Küchenfenster, erfüllt Vereinssäle und liegt über dem Brüchelwald: Schlager, Walzer, Marsch und Operettenschmelz – Ohrwürmer mit Gebirgsluft. Denn 2025 kehrt ein Klassiker auf Deutschlands größte Freilichtbühne zurück: „Im Weißen Rössl“.

Die Uraufführung 1930 im Großen Schauspielhaus Berlin war bereits ein orchestrales Großereignis: 250 Musiker spielten auf der Bühne und im Graben. Regisseur Erik Charell mischte Jazz, Revue und Heimatklang. Ralph Benatzky komponierte die Musik; Bruno Granichstaedten, Robert Stolz und Robert Gilbert steuerten Einlagen bei. Eduard Künneke orchestrierte das Stück. Der Sound war jazzig und frech – näher bei Brechts „Dreigroschenoper“ als beim später bekannten Anneliese-Rothenberger-Ton der Operette.

Die Originalfassung galt lange als verschollen – verloren in den Wirren des Krieges. Bruno Uher schuf daher 1951 eine Neubearbeitung, die seither meist gespielt wird – auch in Ötigheim, weil sie satt klingt und zum großen Format der Volksschauspiele passt. Die inzwischen rekonstruierte Originalfassung von 1930 bleibt derzeit dem Berufstheater vorbehalten.

Wie schon 2009 unter Matthias Hammerschmitt wird 2025 unter der musikalischen Leitung von Bernard Bagger komplett live musiziert. Bagger hat die Partitur für die Ötigheimer Bedürfnisse eingerichtet. Ein Orchester sitzt im Graben, die Musiker des Ötigheimer Musikvereins unter Mario Ströhm spielen auf der Bühne. Zum Solistenensemble aus eigenen Kräften und Gästen kommen verschiedene Chöre: Der große Chor und die Jugendchöre der Volksschauspiele werden unterstützt vom Gesangverein Liederkranz und einem Projektchor mit Sängern bis aus dem Raum Karlsruhe. „Auch für das traditionell semiprofessionelle Orchester haben sich ausgezeichnete Musikerinnen und Musiker gemeldet – sowohl professionelle als auch ambitionierte Laien.“, sagt Bernard Bagger.

Große Gruppe von Menschen in traditioneller Tracht auf mehrstufiger Bühne vor einem historischen Gebäude, einige heben die Hände zum Gruß
Schlussbild 2009: Chöre und Musikverein auf der Rössl-Bühne.

Dass Bernard Bagger 2025 die musikalische Leitung des „Weißen Rössl“ übernimmt, hat eine schöne Pointe: Seine erste Bühnenerfahrung bei den Volksschauspielen sammelte er genau mit diesem Stück – als Kind im Kinderchor, im Jahr 2009.

Kinder in traditioneller Kleidung stehen um einen Tisch mit Körben voller Hummer und Krabben in einem Park
Bernard Bagger (Mitte): Im Kinderchor 2009.

Bernard Bagger (*1999) studiert seit 2019 an der Hochschule für Musik Karlsruhe. Früh stand für ihn fest, dass Musik mehr als ein Hobby ist. Bereits während der Schulzeit lernte er Klavier und Bratsche an der Musikschule Ettlingen, spielte später im Bundesjugendorchester – unter der Leitung von Größen wie Kirill Petrenko und Sir Simon Rattle. Erste Erfahrungen im Theaterbetrieb sammelte er nach dem Abitur als Korrepetitor am Theater Hof.

Inzwischen ist Bagger in der regionalen Musikszene vielseitig aktiv – als musikalischer Leiter, Arrangeur und Komponist. Er arbeitet regelmäßig mit dem Jungen Kollektiv Musiktheater Karlsruhe, leitet das UNI-Tanzorchester des KIT und wirkt an Produktionen des Instituts für MusikTheater der Musikhochschule Karlsruhe mit. Bei den Schlossfestspielen Ettlingen übernahm er 2024 die musikalische Leitung von „Evita“.

Seit der Spielzeit 2024 ist Bernard Bagger musikalischer Leiter der Volksschauspiele. Zuletzt verantwortete er dort unter anderem die Produktionen „Blues Brothers“, „Don Camillo und Peppone“ sowie „Das Wirtshaus im Spessart“. Mit dem „Weißen Rössl“ kehrt nun jenes Stück auf die Bühne zurück, mit dem seine eigene Ötigheim-Geschichte begann – diesmal mit ihm als musikalischem Kopf.

Mann mit dunkelblauem Hemd sitzt vor schwarzem Hintergrund, Hände vor dem Körper gefaltet
Bernard Bagger: Musikalischer Leiter 2025.

Übrigens: Am 6. Juli darf man als Zuschauer bei einer „SingMit“-Aufführung selbst zur Stimme greifen. Dann gilt: „Zuschau’n kann i net“ – denn wer still bleibt, verpasst das Beste.

2025 bringen die Volksschauspiele Ötigheim „Im weißen Rössl“ in neuer Inszenierung auf die Freilichtbühne. Markus Wild-Schauber begleitet die Produktion mit dieser Textreihe. Folge sechs widmet sich dem Kaiser – und den Schauspielern, die ihm bei der Uraufführung und in Ötigheim Gestalt gegeben haben.

Sommerfrische am Wolfgangsee: Sonnenhüte, Mehlspeisen, Beziehungswirbel. Im Hotel „Zum Weißen Rössl“ führt Wirtin Josepha das Regiment – entschlossen und mit Herz. Zahlkellner Leopold liebt sie still und aufrichtig. Auch die Sommergäste aus Deutschland treiben das Liebeskarussell an: mit großen Gefühlen und liebenswürdigen Schwächen.

Dann betritt einer die Bühne, als käme er aus einer anderen Zeit: der Kaiser. Franz Joseph I. – leibhaftig.

Sein Auftritt ist alles andere als selbstverständlich. In der Lustspielvorlage von Blumenthal und Kadelburg aus dem Jahr 1897 fehlt der Monarch noch. Erst Regisseur Erik Charell führte ihn 1930 für die Berliner Uraufführung der Operette ein – als dramaturgischen „Deus ex machina“ und emotionales Zentrum.

Mit dem Lied „Es ist einmal im Leben so“, das der alte Herrscher Josepha ins  Stammbuch schreibt, bringt er die Rössl-Wirtin zur Besinnung. Ihre Träumerei von Dr. Siedler entpuppt sich als Illusion – der treue Leopold ist es.

Zu Beginn war die Ausgestaltung der Rolle umstritten. Paul Hörbiger, der bei der Uraufführung den Kaiser spielte, verweigerte jede Karikatur. In seinen Erinnerungen schrieb er: „Ich wollte keinen komischen alten Trottel spielen, sondern einen Mann, der wirklich einmal Macht hatte. Einen, der weiß, dass er heute nur noch ein Denkmal ist – aber ein lebendes.“

Hörbiger hatte unter Franz Joseph in der k.u.k.-Armee gedient. Für ihn war der Kaiser nicht bloß ein Symbol, sondern ein Mensch – einer, der schwere persönliche Tragödien durchlitten hatte: das Attentat auf Sisi, Rudolfs Tod in Mayerling, den schleichenden Zerfall seines Reiches. All das ließ Hörbiger in wenigen Bühnenminuten aufscheinen. Kritiker und Zeitzeugen berichteten von einem Auftritt, „als stünde der echte Franz Joseph auf der Bühne“. Es heißt, das Publikum erhob sich, wenn Hörbiger erschien.

Wie sehr seine Darstellung die Figur prägte, zeigt ein seltenes Dokument aus dem Benatzky-Archiv: ein maschinengeschriebenes Avis für Regisseure und Darsteller, beigelegt dem Regiebuch von 1931. Dort heißt es: „Die Rolle des Kaiser Franz Joseph ist keine Operettenfigur. Sie darf nicht als trottelhafter oder seniler Charakter erscheinen. Vielmehr muss sie wirken, wie vom Autor beabsichtigt und bei der Berliner Aufführung vorbildlich gelungen: als liebenswürdige, gütige, volkstümlich ansprechende Gestalt.“

Als Paul Hörbiger 1930 den Kaiser erstmals spielte, war er gerade 36. Auch Jörg Selbach war jung, als er 1978/79 in Ötigheim den Monarchen verkörperte. Kritiker Dieter Schnabel lobte: „Keinen Trottel, sondern einen nicht unsympathischen Kaiser stellte Jörg Selbach auf die Szene.“ Die Wortwahl ist kaum Zufall – zu nah liegt sie an Hörbigers berühmtem Satz. Schnabel stellte Selbach bewusst in die Tradition jener ersten, stilprägenden Darstellung.

Zwei Personen in traditioneller Tracht sitzen an einem mit rotem und weißem Tischtuch bedeckten Tisch vor einem historischen Gebäude mit Arkaden
Jörg Selbach und Bertl Kühn, 1978/79.

Josef Kühn übernahm die Rolle 1993 und 2009 – häufiger als jeder andere in Ötigheim. Schon seine Erscheinung strahlte Würde aus. Wer ihn sah, dachte: Ja, so könnte es gewesen sein. Im Kaiserlied, dessen ersten Teil er traditionell sprach, ließ der „Schwarz-Sepp“ dann seine warme Singstimme erklingen. Und manchmal glänzte eine Träne in den Augen seiner Bühnenpartnerinnen.

Älterer Mann mit grauem Haar sitzt an einem Holztisch und schreibt auf Papier, neben ihm steht eine Frau in einem weißen Kleid mit rosa Überwurf und Perlenkette, im Hintergrund Bäume
Josef Kühn und Christiane-Maria Vetter, 2009.

Für Horst Herrmann, der das „Weiße Rössl“ einst nach Ötigheim brachte, schloss sich mit dieser Rolle ein Kreis: vom Regisseur zum Darsteller, vom Impulsgeber zum würdevollen Ausklang. Die Figur des Kaisers wurde für ihn – wie für Josef Kühn – zu einem späten Höhepunkt ihrer langen Theaterlaufbahn. Ein stiller, eindrucksvoller Moment, getragen von der Melancholie des alten Monarchen. Und zugleich ein leiser Abschied zweier großer Darsteller – fast wie ein letztes Grüßen aus einer zu Ende gehenden Zeit.

Frau in traditionellem Kleid und rosa Schal reicht einem älteren Mann in Trachtenjacke einen Gegenstand am Tisch im Freien vor einer Treppe
Horst Herrmann und Silvia Klauder, 2009.

Zwischen Gefühl und Pointe – Holger Hauer inszeniert das Weiße Rössl in Ötigheim

2025 bringen die Volksschauspiele Ötigheim „Im weißen Rössl“ in neuer Inszenierung auf die Freilichtbühne. Markus Wild-Schauber begleitet die Produktion mit dieser Textreihe. Für Folge fünf hat er mit Regisseur Holger Hauer gesprochen:

Als Darsteller stand er bereits in den 1980er-Jahren als Piccolo in Bielefeld auf der Bühne, später als Zahlkellner Leopold in Merzig. Nun begegnet Holger Hauer dem Weißen Rössl aus einer neuen Perspektive – der des Regisseurs in Ötigheim.

Was Hauer am Rössl besonders reizt, ist die vermeintlich einfache, aber wirkungsvolle Mischung. „Es ist lustig, stellenweise überdreht“, erklärt er, „aber wenn’s um Gefühle geht, wird es plötzlich ganz ehrlich. Und genau das mag ich daran.“ Diese Verbindung von übertriebener Komik und großer Ehrlichkeit will er betonen. Er mag die schnellen Szenen genauso wie die Balladen im Stück. Man könne das Stück zwar „auch einfach brav durchspielen“, sagt er, „aber ich hätte es gern ein bisschen pfiffiger.“

Diese angestrebte „Pfiffigkeit“ speist sich maßgeblich aus einem Element, das für Hauer auf der Bühne absolut entscheidend ist: Timing. „Timing ist kein chinesisches Restaurant“, betont er gerne. Was nach einem humorvollen Seitenhieb klingt, ist für ihn durchaus eine Frage des Erfolgs oder Misserfolgs eines Theaterabends. Stimmt der Rhythmus nicht, verpufft die Pointe. „Da muss ich als Regisseur eingreifen.“

Die Bühne in Ötigheim hat mit ihrer Größe und dem vielköpfigen Ensemble aus Profis und Laien besondere Herausforderungen. Holger Hauer sieht darin vor allem Potenzial. „Was hier an Energie, Engagement und auch an echtem Talent zusammenkommt, ist bemerkenswert“, lobt er.

Ein gutes Beispiel für seine pragmatische und dennoch fantasievolle Herangehensweise an die Ötigheimer Gegebenheiten ist der Umgang mit dem Wolfgangsee. Da das Wasserbecken auf dem Tellplatz aus baulichen Gründen nicht mehr befüllt werden kann, wählt Hauer eine klare theatralische Lösung: bewegte Tücher, Licht, ein Moment der Behauptung. „Wir sind im Theater“, erklärt er. „Wir müssen nicht alles eins zu eins zeigen. Wir dürfen auch andeuten – und wenn es gut gemacht ist, nimmt das Publikum das an.“ Dass dieser stilisierte See nun näher am Zuschauerraum liegt, empfindet er nicht als Mangel, sondern als Gewinn. „Das schafft Nähe, und da kann man ganz anders erzählen und spielen.“

In den Proben theoretisiert Holger Hauer wenig. Er arbeitet direkt am Stück, beobachtet genau, hört zu und gibt präzise Anweisungen. „Wir dürfen das Publikum nicht langweilen.“ Dieser Satz ist für ihn der Maßstab für jede einzelne Szene, jeden Auftritt, jede Pause. Alles muss im Fluss bleiben, die Geschichte vorantreiben, das Publikum fesseln. Dabei setzt er auf eine klare Haltung, aber keine Strenge. „Ich habe so eine ganz gute Mischung aus netter Lockerheit und Autorität“, sagt er – und schafft damit einen Rahmen, in dem konzentriert gearbeitet werden kann, ohne dass der Spaß verloren geht.

Holger Hauers Weg auf die Bühne war kein gradliniger Plan: Sänger einer Schülerband in Münster, „Ein-Mann-Chor“ einer Laien-Musicalgruppe. 1985 wird er ins Profigeschäft katapultiert, als er am Theater Oberhausen unerwartet für die Hauptrolle des Judas in Jesus Christ Superstar engagiert wird – obwohl zunächst nur die Band eingeplant, und er nur als ‚akustische Verstärkung‘ dabei war. Ein Sprung ins kalte Wasser des professionellen Theaters, und ein Erfolg, der ihn überwältigte. „Ich habe auf der Premierenfeier zweieinhalb Stunden durchgeheult – aus lauter Erleichterung und Freude.“ Früh lernte er aber auch: Talent allein genügt nicht. Nach einem Engagement zog er nach Berlin und erarbeitete sich sein Handwerk dort von Grund auf – mit privatem Unterricht in Gesang, Tanz und Schauspiel.

Heute bringt er die Erfahrung aus 40 Bühnenjahren und ebenso vielen Inszenierungen mit – und ist daneben auch als Darsteller, Autor und Musical-Übersetzer tätig.

Die persönliche Bedeutung seiner Arbeit zeigt sich auch in kleinen Gesten. Dass sein Vater, 88 Jahre alt und seit Jahrzehnten bei allen Premieren dabei, auch nach Ötigheim kommen will, berührt ihn sichtlich. Es ist ein Zeichen von Beständigkeit in einem Beruf, der viel davon abverlangt. „Mein Liebeslied muss ein Walzer sein“, heißt es im Rössl. Für Holger Hauer ist „Die with a Smile“ von Lady Gaga und Bruno Mars das Lied, „was meine Liebste und mich total verbindet. Und immer wenn ich das höre … bin ich mit dem Herzen zu Hause und bei ihr.“

Sein nächstes Projekt führt ihn vom Musical zur Schauspielbühne: Der Sohn, ein intensives Stück über familiäre Überforderung und seelische Not bei Jugendlichen, steht an – unter anderem mit Hardy Krüger Jr. in der Besetzung. Hauer freut sich auf diese neue Aufgabe: ein Schauspiel, ganz aus der Tiefe des Spiels erzählt.

Zunächst ist aber noch Weißes Rössl angesagt – „charmant, frech und höchst musikalisch“, wie Holger Hauer es selbst beschreibt.

Mann in braunem dreiteiligem Anzug lehnt an einer grauen Wand mit orangefarbenen und weißen Graffiti
Holger Hauer, Regisseur der Rössl-Inszenierung 2025, fotografiert von Studio Monbijou.

Zwischen Sehnsucht und Romanze: Die wahre Geschichte hinter „Im weißen Rössl“ 

2025 bringen die Volksschauspiele Ötigheim „Im weißen Rössl“ in neuer Inszenierung auf die Freilichtbühne. Markus Wild-Schauber begleitet die Produktion mit dieser Textreihe. Folge vier erzählt von einer wahren Sommerliebe – oder zumindest von einer Begegnung, bei der man es vermuten darf. Wie genau sich alles zugetragen hat, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Sicher ist nur: 1897 wurde daraus ein Theaterstück – und später die Operette, die heute fast jeder kennt.

Wer diesen Sommer in Ötigheim die charmante Rössl-Wirtin Josepha und den schmachtenden Zahlkellner Leopold auf der Bühne erlebt, ahnt vielleicht nicht: Hinter der heiteren Geschichte könnte eine geheime Herzensangelegenheit stehen – voller Sehnsucht und leiser Zwischentöne.

Schon 1750 schrieb Carlo Goldoni die Komödie Mirandolina über eine kluge Wirtin, die nicht den reichsten, sondern den treuesten Verehrer – ihren Kellner – wählt. 2014 brachte der Jugendclub der Volksschauspiele dieses Stück unter dem Titel Die Wirtin auf die „kleine bühne“.

Mann kniet und hält die Hand einer Frau, beide tragen historische Kostüme, sie steht in einem orangen Rock und weißer Bluse
Melanie Wild und Sven Engel (2014): Mirandolina und Fabrizio in Goldonis „Die Wirtin“.

Doch Im weißen Rössl beruht nicht nur auf dichterischer Fantasie, sondern nimmt auch Bezug auf tatsächliche Personen und Orte im Salzkammergut:

In Lauffen bei Bad Ischl führte im 19. Jahrhundert die verwitwete Maria Aigner das Gasthaus „Zum Weißen Rössl“ – fesch, klug und selbstbewusst. Zu ihren Gästen zählte ab 1890 auch der Berliner Theatermann Oskar Blumenthal. Anfangs logierte er in Kaltenbach bei Leopold Petter, der sich vom Pikkolo zum erfolgreichen Besitzer mehrerer Hotels hochgearbeitet hatte.

Frau in dunklem viktorianischem Kleid mit Spitzenkragen hält ein Buch; Mann in Anzug mit gepunkteter Fliege
Maria Aigner & Oskar Blumenthal: Die Wirtin vom echten „Rössl“ und ihr heimlicher Verehrer.

Von dort zog es ihn täglich zum „Rössl“ – nicht allein des Essens wegen, sondern wohl auch wegen Maria Aigner. Eine offene Beziehung war unmöglich – Blumenthal war in Berlin verheiratet. Und so ließ er sich direkt gegenüber dem „Rössl“ eine Villa errichten, von deren Balkon er immer zum Gasthaus hinüberblicken konnte. Und wie so mancher Dichter und Komponist, verarbeitete Blumenthal seine Sehnsucht  im kreativen Tun.

Holzhaus mit spitzem Turm und mehreren Fenstern, umgeben von grünen und roten Blättern
Villa Blumenthal: Gegenüber dem einstigen „Weißen Rössl“ – hier wurde Sehnsucht zu Wort und Szene.

In der Vorsaison 1897, auf der Suche nach einem neuen Theatererfolg, erinnerte sich Blumenthal an Goldonis Stück. Zusammen mit Gustav Kadelburg adaptierte er die Handlung: Statt in Florenz spielte sie nun im Salzkammergut, statt der Wirtin Mirandolina trat Josepha Voglhuber auf – inspiriert von Maria Aigner. Und der Zahlkellner Leopold nahm Charakterzüge von Leopold Petter auf.

Sich selbst versteckte Blumenthal mit viel Selbstironie in der Figur des polternden Fabrikanten Wilhelm Giesecke, der im Liebeskarussell des Stücks immun gegen die Reize der Wirtin bleibt.

1897 feierte das Schauspiel Im weißen Rössl in Berlin Premiere – und wurde ein Triumph. Sogar Max Reinhardt inszenierte es später mit Gustaf Gründgens. Doch erst die Operette von 1930 machte die Geschichte unsterblich.

Wenn in diesem Sommer, fast 130 Jahre später, der Zahlkellner Leopold auf der Ötigheimer Bühne singt: „Es muss was Wunderbares sein, von dir geliebt zu werden…“ dann klingt in dieser Melodie vielleicht auch die stille Sehnsucht nach, die Oskar Blumenthal für Maria Aigner empfand – und die in der Kunst für immer weiterlebt.

Frau in rotem historischem Kleid mit weißen Details und schwarzem Halsband mit Medaillon, Mann im schwarzen Anzug kniet vor ihr auf Treppe
Christiane-Maria Vetter & Reinhard Danner (2009): Leopold gesteht Josepha seine Liebe.

 

„Was kann der Dixi denn dafür, dass er so schön ist?“

2025 bringen die Volksschauspiele „Im weißen Rössl“ in neuer Inszenierung auf die Freilichtbühne. Markus Wild-Schauber begleitet die Produktion mit dieser Textreihe. Folge drei blickt auf die rollenden Requisiten vergangener Rössl-Inszenierungen:

Die Operette Im weißen Rössl ist in jener Zeit angesiedelt, in der sie entstanden ist – den späten 1920er-Jahren. Auch als das Rössl 1978 erstmals in Ötigheim gezeigt wurde, verortete man die Ausstattung konsequent in diese Epoche.

Konkret bedeutete das: Nicht nur die Kostüme mussten dem Stil der Zeit entsprechen, sondern auch die Fahrzeuge. Regisseur Horst Herrmann erkannte sofort das große Unterhaltungspotenzial – den Schauwert – von Tierfuhrwerken und Oldtimern auf der Bühne. Gleichzeitig ließ sich damit symbolhaft der Kontrast zwischen den friedlichen Bewohnern von St. Wolfgang und dem lautstark hereinbrechenden Touristenstrom darstellen.

Ein Kuhfuhrwerk wurde benötigt, ein Omnibus – und natürlich sollte der schöne Sigismund auch ein schönes Automobil fahren. Anspannbare Kühe waren in Ötigheim damals schon nicht mehr vorhanden, doch im nahen Elchesheim wurde man fündig. Einen Omnibus aus den 1920er-Jahren hatte die Brauerei Hoepfner noch im Einsatz, und auch ein passender BMW Dixi, Baujahr 1928, wurde in Karlsruhe gefunden.

Historischer Bus vor dem Gasthaus 'Zum Weissen Rössel' mit mehreren Personen in traditioneller Kleidung auf der Treppe und Terrasse
Musikalischer Auftritt mit Motor: Der Hoepfner-Bus bringt den Chor auf die Rössl-Bühne (1978).

Der Dixi fand den Sommer über Unterschlupf in einer privaten Garage in der Ötigheimer Karlstraße. Der Omnibus hingegen musste für jede Aufführung eigens aus Karlsruhe geholt und am Ende der Aufführung wieder zurückgebracht werden. Hannes Beckert, einer der herausragenden Darsteller des Ensembles, übernahm diese stumme Aufgabe mit jener selbstverständlichen Hingabe, die das Ötigheimer Volksschauspiel seit jeher als gelebte Gemeinschaft auszeichnet.

Wenn gleich zu Beginn der Aufführung der alte Bus von rechts – vom „Ötigheimer Weg“ – auf die Bühne fuhr und die Sängerinnen und Sänger des Chores als Touristen ausstiegen, um die See-Terrasse des Weißen Rössls zu bevölkern, war ein fulminanter Auftakt gelungen. Die Bühne musste der Bus übrigens rückwärts verlassen – die Ausfahrt über die „hohle Gasse“ war schlichtweg zu eng.

Von dort wiederum tauchte später am Abend – es war ohne Sommerzeit schon früh dunkel – der BMW Dixi auf. Bevor man ihn sah, hörte man ihn: eine Hupe wie aus einem Laurel-und-Hardy-Film, dazu das charakteristische Schnurren des Motors. Dann durchschnitten zwei Lichtkegel die Dunkelheit. Der Wagen wurde vor dem Ötigheimer Wolfgangsee abgestellt – und das romantische Werben des schönen Sigismund um sein schüchternes Klärchen konnte beginnen.

Person in kariertem Anzug und weißer Mütze repariert Kühlergrill eines roten Oldtimers Dixi von 1928 bei Nacht
Große Szene mit kleiner Kurbel: Paul Hug und Silvia Kohm (1978).

Krönender Abschluss der Szene war der Neustart des Wagens. Mit untrüglichem Gespür für das komödiantische Potenzial der Situation und perfektem Timing entwickelte Paul Hug, in der Rolle des Sigismund, daraus eine Routine, die zum Kabinettstück wurde: Er griff zur Kurbel, versuchte mehrfach, den Motor zu starten – vergeblich. Schließlich, entnervt, gab er auf und lief davon. Und just in diesem Moment sprang der Wagen scheinbar wie von selbst an! In Wahrheit war es Klärchen (Silvia Kohm), die im Inneren des Fahrzeugs unbemerkt im richtigen Moment den Start auslöste. Das Publikum tobte – und auch der stets bis an den Rand mit Mitwirkenden gefüllte Orchestergraben zeigte: Diese scheinbar leicht gespielte Episode verlangte einen echten Komödianten – und fand ihn.

Bei der Inszenierung von 1993 kam der historische Bus dann von der Brauerei Moninger in Karlsruhe. Und Sigismund fuhr nun ein Ford A-Modell.

Alter roter und weißer Bus mit Werbung für Moninger Pilsener und einem Schild mit 'Salzkammergut Karlsruhe'
Moninger-Bus im Rössl-Dienst: Chauffiert von Hannes Beckert (1993).

Für die Aufführung im Jahr 2009 veranstaltete Regisseur Manfred Straube ein regelrechtes Oldtimer-Casting. Mangels geeigneter Originalfahrzeuge aus den 1920er-Jahren wich man diesmal auch auf Modelle aus den 1950er- und 60er-Jahren aus.

Drei Oldtimer-Autos in einer Reihe auf einem gepflasterten Platz, mehrere Personen stehen daneben und unterhalten sich
Bühnenprobe mit Chrom: Oldtimer reihen sich zum Casting (2009).

Und wie bewegen sich die Darsteller 2025 über die Bühne? Lassen Sie sich überraschen!

 

 

Das Rössl tanzt – Berlin 1930

2025 bringen die Volksschauspiele Ötigheim „Im weißen Rössl“ in neuer Inszenierung auf die Freilichtbühne. Markus Wild-Schauber begleitet die Produktion mit dieser Textreihe. Folge zwei führt ins Berlin der 1930er: zur Uraufführung der Revue-Operette – inhaltlich dem ursprünglichen Theaterstück von 1897 verbunden, aber temperamentvoller, leichtfüßiger, funkelnd vor Musik und Lebensfreude. Und anders als die uns vertraute Rössl-Idylle der Nachkriegszeit.

Berlin, 8. November 1930: Vor dem Großen Schauspielhaus dröhnen Autohupen, Lichterketten flackern über dem Vorplatz, und auf dem alpenländisch umgestalteten Portal prangt farbenfroh: Hotel Zum Weißen Rößl. Bereits eine Woche vor der Premiere hat sich die Fassade in ein zweistöckiges Gasthaus verwandelt – mit gemalten Fensterläden, hölzernen Balkonbrüstungen und einem schneeweißen Rössl auf dem Dach. Das Theater, nahe dem heutigen Friedrichstadt-Palast, ist Berlins größte Revuebühne mit stolzen 3.500 Plätzen.

Fassade des Hotels Zum weißen Rößl mit traditionellen Fenstern und Schriftzug, Menschen stehen davor
Außendekoration: Das Portal des Großen Schauspielhauses wird zum „Weißen Rößl“.

Doch das Spektakel endet nicht an der Fassade. Das gesamte Theater wurde zum alpenländischen Hotel: eine Rezeption, bemalte Wandvertäfelungen, Herzerltüren, Kraxlstiefel und eine rustikale Ausschanktheke mit hölzernen Tanzfiguren. Hotelportiers in Lederhosen servieren Getränke, Stubenmädchen im Dirndl geleiten die Gäste zu ihren Plätzen. Der Zuschauerraum ist Teil der Bühne – die Landschaft von St. Wolfgang ist bis in die glühenden Alpengipfel aufgebaut und geht rund ums Parkett. Das Theater ist Inszenierung, noch bevor das Stück beginnt.

Berglandschaft mit See und Dorf, tanzendes Paar in Trachten, Oldtimer-Auto mit Fahrer und Beifahrer, Schriftzug 'Im weissen Rössl'
Witz, Musik und Tempo: Programmheft zur Uraufführung 1930.

Das Weiße Rössl ist zurück – nicht mehr als Bühnenschwank vergangener Tage, sondern als schillernde Revue-Operette. Regisseur Erik Charell, Broadway-erprobter Visionär, erschafft eine Sensation – wenn man so will: das erste deutschsprachige Musical. Die als „Singspiel“ angekündigte Uraufführung ist ein Ereignis – überschäumend und unerwartet. Ein Feuerwerk aus Tempo, Witz und Sex-Appeal. Alpenfolklore wird zitiert – und zugleich ironisch gebrochen. Legionen von Tänzerinnen im knappen Glitzerdirndl, Herrenensembles zwischen Frack, Lederhose und Bademode. Charleston auf Edelweißwiesen, Hüftschwung mit Augenzwinkern. Es prickelt wie Champagner im Wolfgangsee.

Vier bunte Kostümentwürfe von Ernst Stern mit Puffärmeln, Herzmuster und Hüten, inspiriert von Barock- und Rokoko-Mode.
Alles andere als brav: Ernst Sterns Kostüme für Berlin, London, Paris und New York.

Für den von ihm gewünschten internationalen Sound bedient sich Charell gleich mehrerer Komponisten – Benatzky, Stolz, Granichstaedten, Gilbert, Künneke –, zitiert aber auch amerikanische Tanzmusik. Inspiriert vom Broadway, mischt er Jazz, Foxtrott und Tango ins alpenländische Kolorit. Der Kontrast zwischen ländlicher Folklore und urbanem Revue-Jazz wird zum bewussten Stilmittel. Das Tempo? Furios.

Sieben Frauen in kurzen, glänzenden Kleidern und High Heels stehen in einer Reihe mit ausgestreckten Armen, eine Person kniet vor ihnen auf dem Boden
Im Takt der großen Revue: Erik Charell bei der Probe.

Die Bühne? Ein Technikwunder. Charell lässt für 1,5 Millionen Reichsmark ein „echtes“ Rössl samt beweglichen Gebirgszügen, aufblasbaren Tannen, Wasserfall und Wolfgangsee bauen. Ziegen grasen, Boote gleiten, ein Omnibus fährt vor. Eine Traumkulisse zwischen Postkartenidyll und Varieté-Glitzer, in der das Alpenländische leuchtet wie eine exotische Welt. Der ganze Gasthof lebt, tanzt, flirtet, strahlt in Farben und Kostümen – ein Rausch in Tracht und Takt.

Das neue Weiße Rössl ist Operette im Nachglanz der wilden Zwanziger – gemacht für eine Großstadt, die nicht schlafen will.

Mit seiner Textreihe TELL me! hat Markus Wild-Schauber die Geschichte Ötigheims mit Schillers „Wilhelm Tell“ beleuchtet. Nun führt er die Reihe mit mehreren Folgen zum „Weißen Rössl“ fort. Denn 2025 steht bei den Volksschauspielen eine Neuinszenierung des Operettenklassikers an. Der erste Beitrag blickt zurück: auf jene Mischung aus Mut, Musik und Miteinander, die das „Weiße Rössl“ vor fast 50 Jahren auf die Ötigheimer Bühne brachte:

Musikalisch waren die Volksschauspiele von Anfang an. Von Wilhelm Tell bis zur Passion – in jedem Schauspiel setzte Gründerpfarrer Saier auf die Wirkung seines viele hundert Stimmen starken Chores.

Werke des professionellen Musiktheaters hielten jedoch erst zwei Jahrzehnte nach Saiers Tod auf dem Tellplatz Einzug – und dies nicht ohne Magengrummeln.

Zum einen schien die leichtfüßige Operettenseligkeit nicht recht zu Saiers Credo von der Bühne als Kanzel zu passen. Und auch die Frage, ob diese Erweiterung des Repertoires überhaupt mit eigenen Kräften zu stemmen sei, wurde debattiert. Zum anderen gab es innerorts Bedenken, dass die Volksschauspiele damit in Konkurrenz zu Konzertveranstaltungen anderer Vereine treten könnten.

Horst Herrmann, seinerzeit bei den Volksschauspielen Kopf des Projekts, gelang es, diese Sorgen weitgehend zu zerstreuen. Zunächst, indem die erste musikalische Produktion, das Schwarzwaldmädel (1973–75), bewusst als Gemeinschaftswerk der Ötigheimer Vereine organisiert wurde. Der gemeinsame Erfolg öffnete dann die Tür für das Weiße Rössl (1978/79) – wieder unter Beteiligung der Vereine, nun aber als Produktion der Volksschauspiele aufgesetzt.

Festliche Szene vor dem Gasthaus 'Zum Weißen Rössl' mit rotem Teppich, Musikern in Trachten und Kutschen auf einer Freilichtbühne
Der Kaiser kommt! Großer Empfang beim Rössl 1978/79 auf dem Tellplatz.

Um auch musikalisch das Versprechen eines rein Ötigheimer Ensembles und der Beteiligung aller umzusetzen, bearbeitete Rudi Kühn die Partitur. Manches wurde transponiert, anders instrumentiert, weggelassen oder ergänzt – eine Arbeit, die der damalige musikalische Leiter der Volksschauspiele als Kenner der Ötigheimer Musikszene geschickt umsetzte.

Frau in traditionellem bayerischen Dirndl mit rosa Schürze und Mann im schwarzen Anzug mit Fliege, stehend vor einem historischen Gebäude mit Blumen
Bertl Kühn und Gerhard Franz Brucker als Ötigheims erste Rösslwirtin und ihr Leopold.

Was die Eignung des Weißen Rössl für Ötigheim betrifft, unterstrich Peter Selbach im Programmheft, dass es im Theater neben anderem eben auch das zeitlose Bedürfnis gebe, „von der Wirklichkeit abgelenkt zu werden, sich durch Unvernunft verzaubern zu lassen“. Außerdem sei das Rössl von den räumlichen und äußeren Gegebenheiten her „allemal Ötigheim regelrecht auf den Leib geschrieben“.

Zunächst vorsichtig nur für vier Abende im August angesetzt, entwickelte sich die Neuproduktion zum Kassenmagneten der Saison. Schon Wochen vor der Premiere waren die Karten verkauft.

Und Horst Herrmanns Inszenierung holte das begeisterte Publikum dort ab, wo es die Operettenverfilmungen der 50er- und 60er-Jahre zurückgelassen hatten: eine melodienreiche Melange aus Herz, Humor und Heimatliebe – volkstümlich, romantisch, nostalgisch verklärt, akustisch und visuell opulent und in jeder Phase unterhaltsam.

 

Braune Kuh zieht einen Wagen mit Heuballen, darauf sitzt eine Frau in historischer Kleidung, umgeben von Bäumen
Heimatidylle: Dr. Siedler (Josef Kühn) und Ottilie (Christa Jüngert) unterwegs durchs Ötigheimer Salzkammergut.

Theaterkritiker Dieter Schnabel lobte die Volksschauspiele: „Ist es nicht auch Aufgabe des Theaters, zu unterhalten? Oder soll es immer nur belehren, erziehen, verändern, provozieren, zum Nachdenken und zur Stellungnahme zwingen – zumal, wenn es sich als Volksschauspiel begreift? Und so ist gegen diese Erweiterung des Ötigheimer Spielplans gewiss nichts Grundsätzliches einzuwenden. Wesentlich ist vielmehr, dass auch die sogenannte leichte Muse ernst genommen und gut realisiert wird.“

Und genau das tat und tut man bei den Volksschauspielen.

Was mit Mut begann, wurde zur Tradition. Nach Horst Herrmann (1978/79, 1993) und Manfred Straube (2009) übernimmt 2025 Holger Hauer die Regie – in der Hoffnung, mit frischer Handschrift ein neues Kapitel dieser Ötigheimer Erfolgsgeschichte zu schreiben. Um auch das heutige Publikum für das Weiße Rössl zu begeistern.

Menschen in Trachten und Musiker vor dem Hotel Zum Weissen Rössl auf einer großen Treppe bei einer Aufführung
Gemeinsam stark – Solisten, Chöre, Musikverein und Mandolinenorchester füllen die Freilichtbühne mit Klang und Leben.